Kategorie: Allgemein
Category : Allgemein
Allein ums Stromerzeugen geht es lange nicht mehr bei der Bürgerenergie, sondern immer mehr auch um soziale Anliegen, Demokratie und Mitbestimmung, sagt Martin Rühl, Ende März gewählter Vorstandsvorsitzender des Bündnisses Bürgerenergie (BBEn) und Geschäftsführer der Stadtwerke Union Nordhessen. Stadtwerke können dabei für ihn ein verlängerter Arm der Bürger sein.
————————————————————————————————————————————————————————————————————————————-
Von der klimaretter.info-Redaktion
————————————————————————————————————————————————————————————————————————————-
Gerade lässt sich Rühl, wie er im Gespräch erzählt, nach langem Zögern endlich ein Solarstrom-Angebot samt Speicher für sein Haus erstellen. Von 1987 bis 1998 arbeitete Rühl in einem Planungsbüro für innovative Energietechnologien und dann bis 2016 bei den Stadtwerken Wolfhagen in Nordhessen.
klimaretter.info: Herr Rühl, seit gestern kann zehn Tage lang bis zum 18. Juni online über das beste Bürgerenergieprojekt 2017 abgestimmt werden. Insgesamt 17 Projekte haben sich beworben. Wie ist Ihr Eindruck?
Martin Rühl: Spannend finde ich: Es haben sich ganz unterschiedliche Akteure beworben, denen es nicht allein ums Energieerzeugen geht. In viele Bewerbungen sind Komponenten sozialer Anliegen, von Demokratie und Mitbestimmung aufgenommen. Windräder und Photovoltaik sind nicht etwas, was übergestülpt wird, sondern wo selbst gestaltet und entschieden wird – zum Beispiel, dass das Projekt etwas teurer wird, weil man naturschutzfachliche Fragen mitberücksichtigt.
Ein Beispiel, das ich hier erwähnen kann, weil es nicht unter den Bewerbern ist: Die Bürgerenergiegenossenschaft Wolfhagen schüttete einen Teil ihres Gewinns als Naturalie aus, die Mitglieder erhalten vergünstigt LED-Leuchten. Der Strom ist jetzt sauber und da ist es egal, wie viel man verbraucht – diese Haltung gefiel der Genossenschaft nicht. So setzt sie jetzt Anreize, um die persönliche Stromwende fortzusetzen und den eigenen Stromverbrauch zu reduzieren.
Weitere Projekte der Effizienzsteigerung der Genossenschaft in Wolfhagen sind die Förderung zur Anschaffung von Pedelecs oder preiswerte Thermografiechecks fürs Haus. Über solche niedrigschwelligen Angebote kann man bis zu 15 Prozent der Energie sparen.
Das Bündnis Bürgerenergie hatte schon Vorstandschefs aus der Grünstrombranche und von Brancheninitiativen. Nun stehen Sie als Chef eines Stadtwerke-Netzwerks seit Ende März an der Spitze. Was hat es damit auf sich?
Unsere Stadtwerke-Kooperation hat sich den Gedanken des Lokalen und Regionalen und der Bürgerenergie fast in unsere Gene geschrieben. Das ist keineswegs Standard …
… offenbar spielen auch Ihre persönlichen Gene eine Rolle. Bei den Stadtwerken Wolfhagen haben Sie vor Jahren praktisch eine Bürgerenergiegenossenschaft mitgegründet.
Ja, wir lösten damit das Versprechen der Stadtverordneten ein, die eine Beteiligung der Bürger zugesagt hatten, wenn die – in der Region auch umstrittenen – Windkraftanlagen gebaut werden. Die Genossenschaft in Wolfhagen hat inzwischen eine Kapitalisierung von 3,5 bis vier Millionen Euro und 800 Mitglieder.
Im Zuge der Entwicklung fragten wir uns aber mehr und mehr: Warum soll sich die Beteiligung der Bürger auf die Windkraft beschränken, warum sollte sich die Genossenschaft nicht auch an den Stadtwerken beteiligen können? Warum sollte – und dafür werbe ich auch im Bündnis Bürgerenergie – ein Stadtwerk nicht der verlängerte Arm der Bürger sein?
Die vordringlichsten Anliegen eines Stadtwerks drehen sich doch ums Wohlergehen der Bürger. Warum kann man nicht beim Stadtwerk einen Schwerpunkt auf Erneuerbare legen und zugleich die Bürger angemessen beteiligen?
Die Beteiligung der Bürger gilt allgemein als Voraussetzung, um die Akzeptanz für die Erneuerbaren zu erhöhen. Damit das funktioniert, müssen die Bürger aber mehr sein als Geldgeber und einmal im Jahr Teilnehmer an der Gesellschafterversammlung. Echte Beteiligung muss darüber hinausgehen.
Unsere Stadtwerke-Union will genau das tun. Für uns ist Beteiligung mehr, als dass die Bürger sich am Windpark beteiligen und am Ende des Tages ein paar Kröten hinlegen. Die Bürger sind häufig Teil des Problems bei der Energiewende, können aber auch Teil der Lösung sein.
Dazu haben wir einen Kodex verabschiedet, der eben über die Maßstäbe eines reinen Wirtschaftsunternehmens hinausreicht. So schreibt der Kodex vor, dass wir bei fertig entwickelten Windparks bis zu 74,9 Prozent der Anteile für Bürgergemeinschaften und lokale Kommunen öffnen.
Fertig entwickelte Parks deswegen, weil wir glauben, dass das Geld der Bürger nicht dazu da ist, um die Startrisiken abzudecken. Zudem haben wir einen Deckel für die Kosten der Projektentwicklung eingezogen, der bei 180.000 Euro pro Megawatt liegt. Dazu kommt dann noch das Zwiebelschalenprinzip …
… Zwiebelschalenprinzip?
Wenn zum Beispiel ein Windpark gebaut werden soll, schauen wir uns an, welche Gemeinden und Kommunen um den Standort herum liegen, und gehen auf sie und die Bürger zu. Manchmal gründen sich extra erst Genossenschaften um den neuen Standort herum. Die erreichen dann bald den Punkt, dass ihnen die Beteiligung am Windpark nicht mehr reicht, es kommen Solaranlagen hinzu oder Licht-Contracting.
Was ist, wenn der Bürger sagt, ich will in keine Bürgergemeinschaft, sondern vor allem eigenen preiswerten Strom vom Hausdach und möglichst energieautark leben? Passt dieses Leitbild vom Prosumer zur Idee des Bürgers als Partner der Stadtwerke?
Unser Stadtwerke-Verbund stellt sich nicht dagegen, wenn sich jemand eine Solaranlage aufs Dach setzt, einen Stromspeicher dazustellt und eine Selbstversorgung von 60 bis 70 Prozent erreicht. Wenn man eigenen Strom vom Hausdach für zehn bis zwölf Cent bekommen kann und für die Speicherung vielleicht noch ein oder zwei Cent an Kosten drauflegen muss, dann ist das attraktiv.
Ob der Prosumer, der ja in der neuen Energiemarktrichtlinie der EU als wichtiger Akteur beschrieben wird, die wenigen Kilowattstunden Überschuss dann noch mit Nachbarn tauscht, das ist für mich eine Frage des Machbaren.
Stadtwerke können hier aber eine komplett neue Rolle einnehmen. Dazu müssen sie ihre Hausaufgaben machen und solchen Selbstversorgern etwas Attraktives anbieten. Die Top-down-Geschichte – der Strom kommt aus dem Kraftwerk, er wird verteilt und kommt dann irgendwann aus der Steckdose –, die hat sich jedenfalls überlebt.
Viele Bürger, die das machen, schauen aber weniger auf den Preis. Ihr Motiv ist zugleich, als Selbstversorger den etablierten Stromkonzernen eins auszuwischen.
Auch bei unserer Studie „Bürgerenergie heute und morgen“ kam heraus, dass die Attraktivität des eigenen Stroms über den Preis hinausgeht. Die Energie vom Hausdach ist ökologisch sauber und mit dem Speicher ergibt das ein Gefühl von Autarkie und Sicherheit.
Darin kann sich aber eine Bürgerenergie, die die Energiewende insgesamt voranbringen will, nicht erschöpfen. Da haben wir schon noch einige harte Nüsse zu knacken, weil zum Beispiel der Solarstrom überall zeitgleich entsteht. In Diskussionen mit Verbänden aus der Solarbranche bekomme ich immer zu hören: Wenn jeder die Solaranlage auf dem Dach und den Speicher im Keller hat, dann ist die Energiewende gewuppt …
… der berühmte solare Rollout.
Ich sehe die Energiewende eher als eine Mischung aus sehr vielem. Wir müssen schon aufpassen, dass die Energiewende nicht dadurch erschwert wird, dass durch falsche Anreize immer mehr Erneuerbare dort entstehen, wo sie dann häufig abgeregelt werden.
Der Windstrom unseres Stadtwerke-Verbundes kommt derzeit praktisch über die 110-Kilovolt-Netzebene nicht hinaus, wird also regional erzeugt und auch verbraucht. Wir reden nicht nur von einer verbrauchsnahen Erzeugung, sondern praktizieren sie auch – und sind damit auch konkurrenzfähig.